Blick in die Kinderstube des Seidenraupenfalters

Rolf Stiemerling aus Röttgen hat ein ungewöhnliches Hobby. Sein Steckenpferd ist der Bombyx mori besser bekannt unter dem Namen Maulbeerspinner. Schon von Kindesbeinen an befasst sich der promovierte Biologe mit diesem unscheinbaren Falter, dessen Raupen das Rohmaterial für die edelsten Seidenstoffe liefern. Nun hat er seinen Traum, selbst einmal Seidenraupen zu züchten und live zu beobachten wahr gemacht.

 

250 Eier hatte sich Rolf Stiemerling eigens in Frankreich bestellt, aus denen am 21. Juni die ersten Seidenraupen schlüpften. Seither herrscht beim Ehepaar Stiemerling-Wickert in Röttgen das große Fressen. In einer kleinen mit Küchenpapier ausgelegten Holzkiste recken die winzigen Raupen auf der Suche nach Futter ihre Köpfe in die Luft.

 

Unablässig schaffen Rolf Stiemerling und seine Frau Käthe Wickert Blätter für ihre heißhungrigen und äußerst wählerischen Gäste heran. „Die Raupen mögen nur die Blätter des Maulbeerbaums (Morus alba), je zarter desto besser –zumindest in den ersten Tagen“, erklärt der frischgebackene Ziehvater. Zwar fressen die Raupen auch nach der ersten Häutung am liebsten junges Blattgrün, machen sich aber dann mit ihren nunmehr kräftigeren Fresswerkzeugen den Mandibeln auch über die älteren Blätter her. Alle zwei bis drei Stunden brauchen die beigefarbenen Raupen frisches Futter. „Bis zur Verpuppung frisst allein eine Raupe circa 30 Gramm Maulbeerblätter“, erzählt Stiemerling. Das hört sich zwar nicht viel an, bei einer durchschnittlichen Schlupfrate von 97 Prozent muss das Ehepaar jedoch rund 242 Raupen 35 Tage lang durchfüttern. Etwa 7,5 Kilogramm Maulbeerblätter werden bei Stiemerling-Wickerts also insgesamt über den Tisch gehen oder anders ausgedrückt in der Raupenkiste landen. Aber der Experte für Seidenspinnerraupen ist vorbereitet: Schon 2011 sammelte er Samen aus einer Maulbeerbaumhecke am Küdinghovener Friedhof, die ein Relikt aus den 1930er Jahren ist und säte ihn im heimischen Garten aus. Acht gut belaubte Bäumchen dienen jetzt als Futterlieferanten. Ob die aber für seine nimmersatten Kostgänger reichen ist fraglich. „So ein Blatt wiegt ja nicht viel, da muss schon eine Menge Blattmasse zusammenkommen, damit die Raupen satt werden“, sagt Stiemerling. Auch für diesen Fall hat der Rentner vorgesorgt. Zum Glück konnte er schon damals einen Nachbarn für seine kleine Seidenraupenzucht gewinnen, der sich prompt bereit erklärte ebenfalls einige Maulbeerbäume in seinem Garten zu pflanzen.

Rund 5 bis 6 Jahre hat es gedauert bis aus den winzigen Samen des Maul-beerbaums (Morus alba) diese Bäumchen geworden sind (s.u.).

Die Blätter des Maulbeerbaums dienen als Futterlieferant.

Kaum zu glauben: dies alles sind Blätter von ein und demselben Maulbeerbaum. Die große Variationsbreite in der Blattform ist charakteristisch für den Maulbeerbaum.


Vom Ei zum Falter

Das Wohnzimmer der Stiemerling-Wickerts gleicht einem Forschungslabor. Bei angenehmen Temperaturen um die 20 Grad wohnen die Raupen gut geschützt vor direkter Sonneneinstrahlung in einer Holzkiste unter der Fensterbank. Auf dem Esstisch ist das Mikroskop des Biologen aufgebaut, daneben liegen ein Lineal eine Pinzette und ein Notizbuch, in dem Stiemerling akribisch alle Veränderungen seiner temporären Mitbewohner dokumentiert: Veränderungen an den Eiern und Schlupftage der Raupen, Größe der Raupen, Farbe, Futterrationen, eventuelle Sterberate etc.

 

Nach wenigen Tagen beobachten er und seine Frau wie aus den bleigrauen bis grünlich schimmernden und stecknadelkopf-großen Eiern ca. drei Millimeter große Raupen schlüpfen. Innerhalb von nur neun Tagen wuchsen die Raupen der Stiemerling-Wickerts um das Vierfache auf eine Länge von 13 Millimeter und legten auch deutlich an Umfang zu. „Wenn es so weiter geht werden die Raupen dank ihrer ungeheuren Fresslust innerhalb 35 bis 40 Tagen zu einer Länge von 9 bis 10 Zentimetern heranwachsen, was in etwa der Länge eines Zeige- bzw. Mittelfingers entspricht. In dieser Zeit nehmen sie das 10 000fache an Gewicht zu und häuten sich viermal“, beschreibt Stiemerling die weitere Entwicklung der Tiere. Sorge, dass die Raupen ihre Kiste verlassen und durchs heimische Wohnzimmer kriechen könnten, hat er nicht. „Die Tierchen sind genauso propper wie bequem; solange man ihnen genügend Futter serviert, sehen sie keine Veranlassung sich auf den Weg zu machen.“

Auch Käthe Wickert riskiert einen Blick in die Kinderstube der Raupen
Auch Käthe Wickert riskiert einen Blick in die Kinderstube der Raupen

Erst kurz vor der Verpuppung, wenn die Raupen ausgewachsen und satt sind, suchen sie sich einen geeigneten Platz, um ihren Kokon zu spinnen. Hierzu steht bereits ein kleines Geäst bei

Stiemerling-Wickerts bereit, in dem sich die Raupen ein geeignetes Plätzchen suchen können. Aus den fertigen Kokons schlüpfen nach einer 16-tägigen Metamorphose aus den Puppen weiß-graue, flugunfähige Nachtfalter, die nach der Paarung und Eiablage innerhalb von 48 Stunden sterben. Ein Weibchen legt 300 bis 500 Eier ab, deren weitere Entwicklung erst nach einer 10 monatigen Ruhephase (Winterpause) einsetzt.

 

In der Seidenraupenzucht lässt man jedoch nur so viele Falter schlüpfen, wie zur Weiterzucht benötigt werden. Für die Seidengewinnung wird die Weiterentwicklung der Tiere durch das Eintauchen der Kokons in heißes Wasser gestoppt. Denn nur aus intakten Kokons kann der begehrte lange Faden für die technische Weiterverarbeitung gewonnen werden.

 

10 000 Kokons für ein Seidenkleid

Den für die Seidenproduktion wertvollen Kokon spinnen die Raupen aus zwei gefüllten Seidendrüsen, die ca. 40 Prozent des Gesamtkörpergewichts der Raupe ausmachen. Aus dem Sekret der beiden Drüsen werden zwei hauchdünne Fädchen, die in der Spinnwarze an der Unterlippe der Raupe mit Seidenleim umhüllt werden und

beim Austritt an die Luft zu einem einzigen Seidenfaden verkleben.

 

Ein Kokon liefert einen bis zu 1000 Meter langen Faden. Mit nur drei Kokons ließe sich demnach ein seidenes Fädchen von Röttgen bis Ückesdorf spannen. Allerdings müssen rund 8 Seidenfädchen verzwirbelt werden, um einen stabilen Faden für die industrielle Weiterberarbeitung zu erhalten. Allein für die Herstellung eines Seidenkleides werden rund 10 000 Kokons benötigt.

Hier nur ein kleiner Teil von Stiemerlings Bibliothek. Historische und neuere Literatur rund um die Seidenraupe und deren edle Spinnerei hat er im Laufe der Jahre gesammelt und archiviert.
Hier nur ein kleiner Teil von Stiemerlings Bibliothek. Historische und neuere Literatur rund um die Seidenraupe und deren edle Spinnerei hat er im Laufe der Jahre gesammelt und archiviert.

Faszination Seide

Wie aber kommt Rolf Stiemerling zu so einem seltsamen Steckenpferd? Ist es Forschergeist, ein Faible für Kreaturen, denen andere eher mit Abscheu begegnen oder einfach nur reiner Zufall? Etwas von allem, meint er. Das Interesse an den Maulbeerspinnern sei zudem schon in frühen Jugendjahren geweckt worden. Aufgewachsen in der „Samt- und Seidenstadt“ Krefeld, seien ihm erste Berührungspunkte mit der Seidenfabrikation quasi in die Wiege gelegt worden, zumal auch seine Vorfahren in der Seidenproduktion und –gewinnung tätig gewesen sein. So weiß er von seinem Vater, dass dieser während der Nazizeit in der Seidenraupenzucht tätig gewesen sei. „Allerdings durfte ich als Kind nie einen Blick in die Zuchtstation werfen. Die Erzählungen über den Maulbeerspinner übten eine Faszination auf mich aus, die bis zum heutigen Tag erhalten ist.“ Dabei reicht das Interesse des Rentners weit über die Biologie des Maulbeerspinners hinaus: Die Seidenraupenzucht, die Geschichte des Seidenraupenfalters, die Seidenproduktion sowie die vielseitige Nutzung von Naturseide -Stiemerling bringt geballtes Wissen sowie eine umfangreiche Bibliothek rund um den Seidenraupenfalter mit.

 

Seit 5000 Jahren wird der Maulbeerspinner vorwiegend in China und Ostindien gezüchtet, erst um 500 nach Christus hielt der Einzug in Europa. „Friedrich der Große ließ im 18. Jahrhundert verstärkt Maulbeerbäume in Deutschland anbauen, Schul- und Kirchhöfe sowie Straßenränder wurden bevorzugt bepflanzt. Selbstversorgung in Sachen Seidenproduktion schwebte dem König vor. Doch diese Initiativen erwiesen sich zumindest für die Produktion von Naturseide als Flop. Eine Wiederholung der königlichen Idee organisierte das  Nazi-Regime. In den 30iger Jahren dieses Jahrhunderts stand erneut die Autarkie diesmal bei der Versorgung mit Fallschirmseide im Vordergrund“, erzählt Stiemerling. Insbesondere Schulen seien um 1940 zum Anbau von Maulbeerbäumen und der Zucht von Seidenraupen angehalten worden, um dem Führer in der Erzeugerschlacht beizustehen. Rund 140 000 Fallschirme habe man damals sogar hergestellt, in Wahrheit aber sei der Seidenraupenanbau eine reine Beschäftigungsmaßnahme für die zahlreichen Arbeitslosen sowie eine ideale Möglichkeit zur Verbreitung und Festigung von Hitlers Rassentheorie in den Schulen gewesen. Stiemerlings Repertoire an Geschichten und Kuriositäten, die sich rund um den Maulbeerspinner ranken, scheint schier unerschöpflich und ist niemals langweilig.

 

Seidenspinner zum "Aufkleben"


Briefmarken aus aller Welt - Zeichen der Wertschätzung für eine Raupe, die das Rohmaterial für die edelsten und vielseitigen Stoffe liefert.

Nebenbei ist der Rentner leidenschaftlicher Philatelist. Natürlich ist auch dieses Hobby eng mit den Seidenraupen verknüpft. Denn in seinem Album haben nur Briefmarken mit Seidenspinnern Lande-erlaubnis. „Bis auf eine Briefmarke findet sich in meinem Album alles, was je an Briefmarken über den Seidenanbau herausgekommen ist.“ Sein Briefmarkenalbum, das Stiemerling mit interessanten Textpassagen zum Thema versehen hat, wurde vor einigen Jahren sogar im Krefelder „Haus der Seidenkultur“ ausgestellt.

 

Wie es bei Stiemerling-Wickerts weitergeht

Zurück ins Röttgener Raupenquartier: Was macht Rolf Stiemerling, sobald sich alle Raupen in ihrem Kokon verpuppt haben? Wird eine neue Generation in die Kinderstube einziehen? „Nein“, sagt er. „Nachdem ich mich so viele Jahre mit diesen Tieren beschäftigt habe, wollte ich sie einmal live und in Farbe erleben und studieren. Eine Zucht aufzubauen, war nie mein Ziel, das ist einfach zu aufwendig.“ Einige Falter werden wohl schlüpfen und Eier ablegen dürfen, ausgebrütet werden sie jedoch nicht. Dennoch wird Bombyx mori nicht aus dem Haus der Stiemerling-Wickerts verschwinden. Malerin Käthe Wickert, die übrigens auch Mitglied im Arbeitskreis „Bildende Kunst“ ist, hat schon einige Ideen, wie sie die Kokons künstlerisch verarbeiten könnte.

 

Detaillierte Informationen zum Thema erhalten alle Interessierten beim Ehepaar Stiemerling-Wickert unter Tel.: 0228-255 210.

 

 

 
  Textfeld: Seide, so vielseitig wie kaum ein anderer Stoff Einige Anwendungsgebiete: • Seide schmeichelt als: Dessous, Seidenstrümpfe, Kleider, Kissen, Bettwäsche, Schleier, Krawatten etc. • Seide als Statussymbol für: Gewänder, Wimpel • Seide als technisches Gewebe: Schreibmaschinenfarbbänder, Fallschirme, Nähgarn, Lampenschirme, in Getreidemühlen als Mehlsiebe, als Pulverkartuschbeutel bei der Artillerie, bei den Pionieren der Flieger als Flügelbespannung (leicht und haltbar), Ballonhüllen, Angelschnüre, Fischer- und Planktonnetzte etc. • Seide in der Medizin: im Krieg wurde Wundseide von den Ärzten an der Front häufig genutzt, Beschichtung für z.B. Brustimplantate • Seide als kampferprobtes Material: Bogensehne (belegt für Reflexbögen der „Steppenkrieger“, Seidenwamst als Schutzweste • Seidenleim in der Kosmetik: hautfreundlicher Bestandteil in Hand- und Bodylotions, in Haarpflegeprodukten

 

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